Die Zukunft der internationalen Produkthaftung
Mit Vorlagebeschluss vom 8. April 2025 (VI ZR 43/22) hat der Bundesgerichtshof dem Europäischen Gerichtshof einige grundlegende Fragen zur Auslegung von Artikel 5 der Rom II-Verordnung gestellt. Im Zentrum stehen Reichweite und Struktur des Inverkehrbringens im internationalen Produkthaftungsrecht. Die Antworten könnten das Haftungsregime für Hersteller und Zulieferer dogmatisch und auch in praktischer Hinsicht mit erheblichen Konsequenzen verändern. Im Kern geht es um die Frage, wie weit ihre internationale Haftung tatsächlich reicht.
Das internationale Produkthaftungsrecht gehört zu den anspruchsvollsten Bereichen des aufgrund seiner eigenen Dogmatik nur bedingt beliebten Kollisionsrechts. Gleichwohl ist es in Anbetracht des globalen Handeltreibens natürlich bedeutsamer denn je. Artikel 5 der Rom II-Verordnung (Rom II VO) regelt das anwendbare Recht, wenn ein Produkt einen Schaden verursacht. Was so einfach klingt, ist geregelt in einer komplexen, mehrstufigen Anknüpfungsleiter, die einst geschaffen wurde, um ein hohes Niveau an Verbraucherschutz mit den legitimen Interessen der Hersteller zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen.
In dieser Kaskadenanknüpfung wird – in chronologischer Abfolge – abgestellt auf das Recht des Staates, in dem der Geschädigte im Schadenzeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte / in dem das Produkt erworben wurde / in dem der Schaden eingetreten ist, sofern das Produkt in diesem jeweiligen Staat in Verkehr gebracht wurde. Diese Anknüpfungsleiter steht unter Vorhersehbarkeitsvorbehalt: Wenn der Schädiger das Inverkehrbringen des Produkts oder eines gleichartigen Produkts in dem jeweiligen Staat nicht voraussehen konnte, soll das Recht seines gewöhnlichen Aufenthalts gelten.
Dogmatische Unsicherheit über zentrale Begriffe
Die dogmatische Unsicherheit über zentrale Begriffe dieser Vorschrift hat den Bundesgerichtshof (BGH) bewogen, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einige Fragen vorzulegen:
Die ersten beiden Vorlagefragen betreffen den Kernbegriff in Artikel 5 Rom II VO: Das Inverkehrbringen als Anknüpfungspunkt. Ausgehend vom Wortlaut wurde das Inverkehrbringen traditionell als einmaliger Akt des Herstellers verstanden, der das Produkt erstmals auf den Markt bringt. So auch die Entscheidung des EuGH zum Inverkehrbringen nach der Produkthaftungsrichtlinie.
Der BGH scheint die Übertragbarkeit auf die Rom II VO zu bezweifeln, obgleich grundsätzlich im Kollisionsrecht ein entsprechender Gleichlauf zwischen prozessualen und materiell-rechtlichen Vorschriften gewünscht ist. Er fragt den EuGH daher, ob auch ein späteres (erneutes) Inverkehrbringen durch Dritte, etwa durch (Zwischen-)Händler in einem anderen Staat für die Bestimmung des anwendbaren Rechts relevant sein kann.
Es spricht vieles dafür, dass der EuGH antworten wird, dass für das Inverkehrbringen nicht auf den ursprünglichen Hersteller abzustellen ist, sondern ein Produkt mehrfach in Verkehr gebracht werden kann. Denn wenn das nicht der Fall wäre und nur der Hersteller in Verkehr bringen kann, würde es keine Notwendigkeit für die Vorhersehbarkeitseinschränkung geben, da der Hersteller das von ihm gesteuerte Inverkehrbringen immer vorhersehen kann. Ein solches Verständnis hätte zur Folge, dass sich alle an der Vermarktung Beteiligte mit einer – kaum zu überschauenden – Vielzahl an jeweils anwendbaren Rechtsordnungen auseinanderzusetzen haben.
In dem Zusammenhang fragte der BGH den EuGH auch, ob bei der Beurteilung der Frage, ob ein Produkt in einem bestimmten Staat im Sinne der Vorschrift in Verkehr gebracht worden ist, auf das konkrete schadhafte / schädigende Produkt abzustellen ist, oder ob es ausreichend ist, wenn jedenfalls ein identisches Produkt oder ein gleichartiges Produkt in dem bestimmten Staat in Verkehr gebracht worden ist.
Würde man vertreten, dass es nur auf das konkrete Produkt ankommt, wären Erwerbsort und Ort des Inverkehrbringens nahezu immer identisch. Die Anküpfungsleiter in Artikel 5 Rom II VO hätte dann kaum noch eine Daseinsberechtigung. Insoweit könnte der EuGH mit guten Gründen in seiner Antwort auf gleichartige Produkte abstellen, wobei hier nur richtig sein kann, dass es um gleichartige Produkte desselben Herstellers geht. Ansonsten wäre ein Inverkehrbringen in einem Staat nur dann zu verneinen, wenn es in einem Land praktisch gar nicht gehandelt wird.
Bei der Gelegenheit formulierte der BGH noch zwei weitere Vorlagefragen: Er will wissen, ob eine Komponente auch dann als eigenständiges Produkt zu werten ist, wenn sie über ein Gesamtsystem in den Markt gelangt. Dogmatisch wirft das die Frage auf, ob das Produkthaftungsrecht einem eher funktionalen Ansatz folgt, bei dem jede Einheit zählt, oder ob auf die Markterscheinung des Endproduktes abzustellen ist. Zudem fragte der BGH, auf welches Recht abzustellen ist, wenn keine der Anknüpfungsvarianten des Artikel 5 Absatz 1 Rom II VO greift.
Erhebliche Folgen möglich
Gerade die zuerst genannten Fragen können je nach Antwort des EuGH erhebliche praktische Folgen für Unternehmen haben: Hersteller und Zulieferer müssten künftig mit einer hohen Vielzahl an verschiedenen ausländischen Rechtsordnungen rechnen, selbst wenn die Produkte ursprünglich einmal nur in einem Markt in Verkehr gebracht werden sollten. Dasselbe gilt auch für Zulieferer und Hersteller von Komponenten eines Gesamtsystems. Auf die Handel treibenden Unternehmen kommt potenziell Arbeit zu: Haftungsrechtlich wird die Vertragsgestaltung in den Lieferketten, auch für den Regress, weiterhin an erheblicher Bedeutung gewinnen.