Die Pflicht, beim Überholen einer Kolonne im Falle einer sich auftuenden Lücke wegen des dann häufig zu gewärtigenden Querverkehrs besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren und nicht auf die Einhaltung der eigenen Vorfahrt zu vertrauen (sog. Lückenrechtsprechung), besteht nicht im Fall des bloßen Vorbeifahrens an einem in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehenden Lkw.
Anmerkung
Der BGH beschäftigt sich in der vorliegenden Revisionsentscheidung mit der Übertragbarkeit der Lückenrechtsprechung auf das Überholen eines in zweiter Reihe geparkten Lkw vor einer Ausfahrt.
Nach der sogenannten Lückenrechtsprechung darf ein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer beim Überholen einer Fahrzeugkolonne nicht uneingeschränkt auf die Achtung seines Vorrangs vertrauen. Er hat bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne zu achten und sich darauf einzustellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden. Dies entspricht dem Grundsatz, dass der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer seinen Vorrang nicht erzwingen darf, wenn er konkrete Anzeichen dafür hat, dass seine Vorfahrt missachtet werden könnte.
Derartige Anzeichen habe ein Fahrer, der einen in zweiter Reihe parkenden einzelnen Lkw überholt, nicht. Allein der Umstand eines in zweiter Reihe stehenden Lkw und einer dahinter liegenden Ausfahrt stelle das Recht des vorfahrtsberechtigten Teilnehmers des fließenden Verkehrs, auf seinen Vorrang zu vertrauen, nach der grundsätzlichen Wertung der § 10 Satz 1 und § 9 Abs. 5 StVO nicht in Frage. Ihn treffe deshalb kein Mitverschulden an der Kollision mit einem aus der Ausfahrt kommenden anderen Verkehrsteilnehmer.
Ansprechpartnerin
RAin Runa Stopp, Berlin
runa.stopp@bld.de
Keine Anwendbarkeit der Lückenrechtsprechung bei Vorbeifahren an in zweiter Reihe vor einer Grundstückseinfahrt stehendem Lkw (mit BLD-Anmerkung)
BGH, Urteil vom 4.6.2024 - VI ZR 374/23